Mängelexemplar oder Überlebenskünstler*In? Warum Diagnosen wie lila Leggins mit Eingriff besser im Schrank von vorgestern bleiben sollten. Und wenn man die Leggins doch nochmal tragen will, man die Diagnose aber drin lassen sollte…

In unserem Miteinander gibt es viele – Unmengen! von- Bewertungen, Urteilen, Prognosen über andere Menschen. Sie finden sich sowohl direkt in der Kommunikation mit dem Gegenüber oder als Urteil über jemensch Dritten.

Nach den Maßstäben der gewaltfreien Kommunikation werden solche Zuschreibungen als gewaltvoll und festschreibend aufgefasst, was durchaus nachvollziehbar scheint. Vom Handeln eines Menschen Interpretationen über das Motiv oder gar den Charakter zu bemühen, ist ein Sport, der zwar sehr menschlich scheint, jedoch auch genau das ist: eine SUBJEKTIVE Interpretation der Motive hinter dem Verhalten. Das kann leicht meilenweit an der eigentlichen Intention des Handelnden vorbei urteilen, dabei viel Leid verursachen, da Menschen sich verkannt und nicht gesehen fühlen. Das wiederum nährt nicht gerade das Wir-Gefühl zwischen den Beteiligten und sagt manchmal vielleicht mehr über den Urteilenden und seine Kognition aus, als über den Handelnden selbst.

Eine Hilfe für mehr Miteinander und vielleicht weniger zuschreibungsbasierte Missverständnisse ist es, wenn mensch beim beobachteten Verhalten bleibt und nachfragt, was denn Absichten dahinter wohl waren. Das ist nicht immer leicht, aber wenn es probiert wird, funktioniert es überraschend konstruktiv in Konflikten oder Situationen mit Fragezeichen über den Köpfen, ist zumindest meine Erfahrung.

Auch positive Urteile scheinen nicht „ohne“ zu sein. Eher so „mit“…

Da man die positive Bewertung anderer vielleicht in seinen Selbstwert einbaut, dann jedoch in dem Maße von ihr und den anderen abhängig wird, in dem man Angst hat, dieses Positivurteil wieder zu verlieren.

Die jedoch pikantesten, bzw. festschreibendsten Urteile, da auf gesellschaftlicher Ebene mit entsprechendem Stigmatacharakter stattfindend, sind meiner Meinung nach psychologische Diagnosen. Besonders jene der Kategorie: „Persönlichkeitsstörung“.

Zuallererst wohl deswegen, weil es eine gesetzte Norm impliziert, von der abweichend im man dann nicht mehr als normal in seiner Persönlichkeit, seinem Affekt, seinem Sein gilt. Wer setzt diese Norm? Und sind wir nicht alle Menschen mit einer natürlichen Diversität in unserem Sein? Sollte das nicht alles Normbereich des menschlichen Seins sein?

Weiterhin kommen mir Zweifel an der Objektivität der „Störungsdiagnosevergabe“.

Denn davon mal ab, dass es für individuelle Menschen mit ihrer persönlichen Entwicklung keine einheitliche Schublade geben sollte und kann. Es ist auch derart abhängig von den geteilten Informationen des Patienten UND dem Sichtwinkel des Psychotherapeuten, welche Diagnose schlussendlich gegeben wird. Je nach beschautem Symptom (werden überhaupt alle genannt?) und wie umfangreich beschrieben, nach Vorprägung der Denkrichtung und Erwartungshaltung des Therapeuten durch seine Erfahrung kann eine Diagnose bei gleichen Leiden beträchtlich variieren. Mich erinnert das immer an dieses Bildnis, bei dem zehn Menschen in Dunkelheit ein Tier ertasten und zuordnen sollen. Je nachdem, welches Körperteil gerade ertastet wird, rät jeder von ihnen ein anderes Tier, das eigentliche Tier wird in dem Gleichnis weder erkannt noch benannt.

Vergleichbar scheint es auch mit derlei komplexen, dabei schwammigen Größen wie psychischen Symptomen und darauf aufbauenden Diagnosen. Gerade in der Psychiatrie und bei so komplexen Thematiken wie Persönlichkeits“störungen“ kommt es leider immer wieder zu Fehldiagnosen.

Dennoch wird mit solcher Leichtigkeit etwas so Mächtiges, da Zuschreibendes, wie eine psychische Diagnose gestellt. Von der „personifizierten Gesundheit“ aka dem Therapeuten über das leidenden Symptombündel mittels aller Autorität der Fachwelt. Das ICD – 10 und vielen wichtigen Fachbüchern und standardisierten Fragebögen im Rücken, in denen alles genau kategorisiert ist. Nämlich: Was noch normal ist. Und: Was nicht mehr. Und wie oft was ab wann auftritt. Auftreten darf. Oder eben nicht.

Wieviel Affekt noch „O.K.“ ist und in der Norm liegt und ab wann das dann aber schon krank ist.

Dabei wird dann ein unscheinbarer, rosa farbender Zettel ausgefüllt. Und mit einem kleinen Schwung landet der Mensch gegenüber in einer Schublade, in der er sich vielleicht selbst nie sah: der der Kranken. Das Buch sagt ihm dann unter Umständen, er kommt da übrigens auch nie wieder raus. Plötzlich ist da ein großer Graben zwischen ihm in der Schublade und den anderen, Gesunden. Vor allem ein Selbstwertgraben. Ein Identitätsgraben. Vielleicht bekommt mensch noch Psychopharmaka verschrieben. Eine große Krücke für einen Gips an einem unsichtbaren Bein. Das man keinem zeigen darf, denn normal sollte man schon sein. Dafür dass man das wieder wird, gibt es dann auch Tabletten. Die können vielleicht helfen. An den Symptomen. Nicht an der Ursache. Es geht im gesellschaftlichen Sinn meistens ja auch eher um normal wirken. Normal funktionieren. Dafür zumindest. Taugen Psychopharmaka in den meisten Fällen. Eine Krücke zum Weiterhumpeln und Tempohalten. Aber der unsichtbare Gips. Die kaputte Seele. Ist ja eben kein Beinbruch in den Augen der Gesellschaft. Vor allem nicht der Leistungsgesellschaft. Das wird nicht gern gezeigt. Und genau hinsehen will man da meist auch nicht. Das kostet Zeit und Ressourcen. Therapien sind begrenzt an Anzahl und Umfang, das Erhalten eines Therapieplatzes bei einer guten Therapeutin gleicht dem Versuch, im Berliner Großraum eine bezahlbare Wohnung zu ergattern.

Das Eingangstor für selbst diese Therapie und leider auch der verbleibende Stempel auf der Stirn, bildet die Diagnose. Die psychologische Erkältung. Oder doch Krebs im Geist? Ja und heilen tut sowas ja wohl auch viel langsamer. Oder nie? Was sagte nochmal die Fachliteratur dazu?

Gab es eigentlich `ne Strickleiter aus dieser Schublade? Oder `ne Bombe für das ganze Schranksystem?

Grund Nummer Drei:

Wenn man es genau betrachtet, ist dieses für krank Erklären des Einzelnen in dieser Gesellschaft fast paradox, sind viele psychische Erkrankungen doch ein systemisch gewachsenes Problem, die nicht selten Querverweise auf die gesamte Gesellschaftlichen Haltungen und Normen beinhalten.

Ein Beispiel?

Es werden Menschen zum Idol in den Medien gemacht, die sich auf ein Niveau hungern, das stark untergewichtig ist. Die ihre Körper peinigen. Aber wenn junge Menschen als Konsument*Innen dieser Medien dann fast nichts mehr essen, um diesem Idol nachzueifern, wenn sie ein gestörtes Körperschemabild entwickeln und infolge dessen eine Essstörung, dann sind sie selbst die Kranken.

Auch Depression kann mensch systemisch anerlernt bekommen… Indem bei quasi allen selbst gewählten Lösungsversuchen aus einer misslichen Lage einfach niemals eine Verbesserung des eigenen unerträglichen Zustandes erreicht wird und mensch die Überzeugung erlangt, dass er die Fähigkeit zur Veränderung der eigenen Lebenssituation verloren hat und selbst dafür verantwortlich sei (erlernte Hilflosigkeit nach Martin Seligman). Das ist nicht selten. Zum Beispiel in einem prekären Arbeitsverhältnis mit hoher Anzahl an Überstunden und etwa vorherrschendem Mobbing, das mensch aber nicht kündigen kann, da die eigene Existenzsicherung daran hängt. Gleichzeitig fehlt Energie und Freizeit in dem Maße, um stabilisierende Ressourcen aufzubauen oder zu verstärken. Dieses Spannungsfeld weiter auszuhalten und darüber depressiv zu werden, ist ein möglicher Verlauf. Charakterisiert wird dann jedoch die Person als krank. Die Diagnose lautet in diesem Fall unter Umständen dann übrigens Anpassungsstörung und klingt fast zynisch im Nachgang.

Ein weiteres Beispiel: Bindung, als enge Beziehung zwischen zwei Menschen charakterisiert, wird in ihrer Qualität vor allem im Säuglings- und Kleinkindalter durch das Verhalten der Bezugsperson zu ihrem Schutzbefohlenen geprägt. Ist sie beispielsweise aufmerksam und versorgend, wird das Kind aller Wahrscheinlichkeit nach sicher gebunden, verhält sie sich abweisend oder ambivalent, wird das Kind unter Umständen eine unsichere Bindung zu seiner Bezugsperson erlernen. Denn: Erfährt das Kind Misshandlungen oder große Instabilität im Umgang mit der Bezugsperson, kann es keine adäquate Bindung aufbauen, da die Person, die Schutz und Zuflucht, gleichzeitig auch Gefahr bedeutet. Das schlägt sich buchstäblich im Bindungsverhalten des Kindes nieder. Es kann unter anderem unsicher vermeidende oder ambivalente Bindungsstile entwickeln. Oder sogar, bei schweren Misshandlungen noch Störungen erleiden (siehe Bindungstheorie, vor allem nach Bolby und Ainsworth). Diese Qualität der frühkindlichen Bindung wird als relativ stabil angesehen. Das heißt, dass sich das erlernte Bindungsverhalten von der Bezugsperson bis in das Bindungsverhalten eines erwachsenen Menschen fortsetzt. Dass, was einem Kind an Sicherheit oder Unsicherheit in Bezug auf die Anwesenheit und Konstanz der Bezugsperson vermittelt wird, auch sein Weltbild und Vertrauen in das Gegenüber im Erwachsenenalter prägen. Bei schlimmen Misshandlungen im Säuglingsalter durch die Bezugspersonen erlebt das Kind unter Umständen derartige Störungen des Vertrauens, dass sich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung herausbilden kann. Die vor allem negative Affekte bezüglich des Selbst, aber auch massive Probleme mit Nähe, Distanz, dem Vertrauen in Bindung und Nähe für Betroffene mit sich bringt. Die Diagnose jedoch benennt nur den Menschen selbst als Wesen mit „gestörter Persönlichkeit“. Zu dem Zeitpunkt, als diese verursacht wurde, war der betroffene Mensch nicht selten noch ein Kleinkind. Mit der Schublade zu leben, in der er dann steckt, ist eine Aufgabe, die er zu den sich fortsetzenden Leiden von mangelnder Zuwendung in jüngster Zeit auch noch zu tragen hat.

Eine Diagnose benennt nicht die Umstände, die zu den Leiden führten, nicht etwaige traumatische Ereignisse, nicht das System. Die Diagnose bekommt der Mensch allein gestellt, von alledem Mitwirkenden entkoppelt. Ein Wort. Ein Stempel. Ab diesem Zeitpunkt für immer darauf zugeschrieben. Vor anderen. Vor sich selbst. Wird aus einem Menschen, der vielleicht viel durchlebt hat, bestimmt Mechanismen zur Bewältigung fand, die jetzt nicht mehr optimal funktionieren, eine pathologische Ziffer. F43.2 Anpassungsstörung. F 60.31 Borderline – Persönlichkeitsstörung.

Auch im Alltag. Im Miteinander. Erst recht wirkend im Gegeneinander. Sogar im Kreis mit Freunden und Bekannten gibt es dann diesen kleinen, unscheinbaren Stempel auf der Stirn, der spätestens bei Diskrepanzen stärker zu leuchten, zu floureszieren scheint und zum Querverweis gereicht, um Aussagewertigkeiten des Stempelträgers zu senken. Nicht selten. Erst recht nicht bei vertrautem Umgang mit gewaltvoller Kommunikation.

Ich kenne Menschen, die hüten „ihre Diagnose“ aus diesem Grund wie einen traurigen Schatz, von dem kaum eine*r je erfahren darf außer die Person, die das Wort einmal bescheinigte – „der Therapeut“.

Sie sagen es nicht ihren Freunden. Nicht ihren Bekannten. Sie brauchen ewig, bis sie sich in dieser …“Schwäche“ zeigen. Weil Menschen diese wankelmütig auf kleinen Scheinen für die Krankenkassen ausgestellten Siegel für Monumente aus Basalt halten. Aus alles überdauerndem Urgestein. Riesig. Unveränderbar. Wahrhaftig. Weil Menschen grausame Dinge tun mit Urteilen. Erst recht mit solchen. Persönlichkeitsurteilen. Defizitbelegen. Sogar, wenn sie es gut meinen. Weil der Freundeskreis einen, immer latent von oben von der Sonnenseite bedauernd, noch fester in den Schlamm der permanenten Verzweiflung drücken kann, als man selbst es unter Umständen je täte. Geschweige denn, wenn es im Streit zur Abwertung über diese Schiene kommt. Das ist wie in aller Diskriminierung von Diversität für die Betroffenen oft sehr schmerzhaft.

Ich kenne auch Menschen, die klammern sich dann an diesen, ihren, Zettel- ihre Diagnose. Und leben sie. Es kann wohl identitätsstiftend sein, wenn es sonst an Halt fehlt. Aber auch das ist unglaublich traurig, einsam und – ja- festschreibend.

Sowohl, wenn man von außen mit einem Kommentar, Querverweis, bedauerndem Blick in die Schublade geschubst wird, aus der man gerade krakseln mag, in die man sich nie reinsortiert hatte, als auch, wenn man sich in ihr schon häuslich einrichtet, weil man den Mut verloren und wenigstens eine Form von Halt über Identifikation gefunden hat: Es verstellt einem nicht weniger als alles. Nämlich: Das freie, wilde, große und einzige Über-sich-und-seine-Wunden-hinauswachsen!

Es mag sein, diese Schublade fasst Symptombündel bestimmter Leidenspunkte und Ungereimtheiten im eigenen Leben zusammen und mensch ist in bestimmten Aspekten auch beschreibbar durch dieses Symptombündel. Vielleicht sogar korrekter Weiser im Leiden erfasst. Aber eben nur AUCH. Nicht: NUR. Diese Verengung auf das Pathologische, dieser Tunnelblick, der einen kompletten, meist sehr starken und kampferprobten Menschen hinter einem seelisch-kränklichen Wort verschwinden lässt, ist genau aus diesem Grund gewaltvoll: WEIL der Mensch verschwindet. Weil vergessen wird, dass er so viel mehr ist, als eine Diagnose. Weil er das selbst vergessen kann darüber. Gerade bei so festschreibenden Urteilen wie „Persönlichkeitsstörungen“. Eine falsche Persönlichkeit? Eine verkackte Existenz. Bescheinigt. Meist bei vollem Bewusstsein.

Weil ein Mensch, der viel Schlimmes erlebt hat, zuerst einmal viel Schlimmes ÜBERlebt hat. Was oft nicht gesehen wird. Weil er wohl Stärke haben musste mit dem Erlebten. Mit den verbliebenen Leiden. Die vielleicht viel wichtiger ist für den Fokus, als seine „Defizite“.

Weil er jenseits dieser Defizite vielleicht ganz ungetrübt „normal“ mit dem Leben und der Welt umgehen wird – und wenn das nicht der Fall sein sollte, doch mal die Frage gestellt werden sollte, wer hier eigentlich definiert, was normal ist. Und wie eine normale Reaktion auf krasse Lebenserfahrungen wohl aussähe. Ob die Person nicht vielleicht sogar ganz normal reagiert hat auf ihre Erlebnisse. Mit quasi natürlichen Bewältigungsversuchen und Reaktionen der Psyche.

All das wird nur meist nicht beschaut und viel zu oft beläuft sich der Tiefenblick nach so einer Diagnose auf den Eintrag zu Symptomen und (noch festschreibender:) Prognosen in Büchern und Wikipediaartikeln. Deep.

Und Menschen laufen dann mit ihrem Stempel herrum und können vor der Gewichtigkeit der von der Fachwelt ausgestellten Diagnose als (Ver-)Urteil(ung) nicht entfliehen. Selbst wenn sie es eigentlich könnten und das gar nicht so schwer wäre, so sorgt oft das Wissen um „die Wahrheit“ über das vermeintlich Wahre im Selbst ,von Fachkreisen für psychische Gesundheit ja bescheinigt, oft schon für eine selbsterfüllende Prophezeiung – ein bekanntes psychologisches Phänomen, bei dem das Wissen / der Glaube an einen Ist-Zustand (z.b. unheilbar psychisch krank) das Subjekt sich so verhalten lässt, dass dieser tatsächlich eintritt. So irrbar und unpräzise die Urteile auch sein können (siehe oben) und so überworfen auch ganze Kategorien im DSM-V und ICD-10 in fünf bis zehn Jahren auch sein werden, da hier immer wieder neue Entwicklungen und Verwerfungen stattfinden, seit Jahrzehnten. Für die einzelne Person bleibt es im Jetzt durchaus traurige Realität, Träger dieses Markers zu sein.

Deshalb ist das Kategoriesieren anhand psychiatrischer Diagnosen für mich die gesellschaftliche Ebene gewaltvoller Kommunikation wie es auch so viele Urteile zwischen und über Menschen sind. Mit weitreichenderen Folgen. Die an dieser Stelle aus Gründen der empfundenen sozialen Normabweichung und der eigenen Defizitwahrnehmung dann häufig genau dem entgegen stehen, an dessen Prozess sie ein Ausgang sein sollen: dem Wachsen. Dem Heilen. Das ist paradox.

Wenn ich sage: ich persönlich bin stark gegen Urteile. Auch in diesem gesellschaftlichen Rahmen. Wofür bin ich dann stattdessen?

Stattdessen bin ich dafür, dass der Mensch als das gesehen wird, was er ist: Ein Individuum, das im Laufe seines Lebens unterschiedliche – mutmaßlich auch sehr schwere- Erfahrungen gemacht hat, die er unterschiedlichen Mechanismen sei Dank mehr oder weniger gut bewältigen und zumindest erstmal überleben konnte. Vielleicht ist mit diesem Mindset der Umgang mit sich, der Welt, bestimmten Erfahrungen im Jetzt dann nicht optimal oder auch leidvoll. Weil die Mechanismen damals lebensnotwendig waren, jetzt aber vielleicht hindern am guten Miteinander. Oder weil Narben geblieben sind, die im Alltag wieder schmerzen. An dieser Stelle ist und bleibt immer das Individuelle das Entscheidende. Und die -sowieso stattfindende- Anamnese, die persönliche Geschichte, was mensch an Stärken und Mechanismen entwickelt hat, wo „es fehlt“ und welche Tools noch gebraucht werden in bestimmten Bereichen, kann im Gespräch mit dem Therapeuten erarbeitet werden. Ich möchte bezweifeln, dass hierzu eine Diagnose nötig ist. Dass sie zum Heilen wirklich gebraucht wird. Geht es doch im Kern um das Stärken der Ressourcen und das Erarbeiten weiterer Tools. Für die Stellen, an denen es noch hakt, an denen noch Brücken über Abgründe fehlen. Das wäre handlungs- und lösungsorientiert. Es würde ermöglichen, das Erfahrene hinter sich zu lassen und den guten Umgang mit dem Kommenden schulen. Dabei die eigenen Ressourcen fokussierend, nutzend und ausbauend, um Defizite zu überwallen. Eine Diagnose hingegen greift vor allem auf, was den Menschen an Defiziten ausmacht(e). Sie hält damit unsinnig am Vergangenen fest, indem sie es auch noch in die Gegenwart schreibt. Sie steht dem nötigen Selbstwert und Mut zum Wachsen der Ressourcen und des Selbst über alte Wunden hierbei oft nur im Weg. SIE gehört in die Schublade mit dem Label „gestern“ darauf. Dann kann der Mensch dahinter sich frei entfalten und unverstellt auf seine Stärken blicken, statt auf seine vermeintlichen Defizite. Denn diese Stärken und nicht die Defizite – haben ihn bis hierher getragen, allen Widrigkeiten zum Trotz – und ihnen sollte der Fokus gebühren. Dann tragen sie „ihren“ Menschen mit Sicherheit auch noch weiter. In einen Zustand mit mehr Frieden mit sich und der Welt. Ein Ziel, das wir übrigens scheinbar alle mehr oder weniger haben.

Noch ein Gedanke zum Schluss: Wenn man wollte, könnte man in der heutigen Zeit wohl fast jedem Menschen eine Diagnose ausstellen. Es gibt nicht: DEN gesunden Menschen. Es gibt kurze Perioden von relativer körperlicher / seelischer Gesundheit. In seinem Leben erleidet jede*R allerdings Tiefs, Krankheiten, Unwegsamkeiten an Körper UND Geist. Und wir haben alle immer gesunde UND kranke Anteile in uns. Von ganz am Anfang bis zum Schluss.

Dichotome Kategorien wie gesund / krank werden der Komplexität unserer diversen Spezies nicht gerecht, da sich die Menschen nicht in sie einteilen lassen, sondern immer Anteile beider Pole in sich tragen. So gesehen sind wir alle gesund und krank. Sind wir alle normal-verrückt. Nur die Anteile variieren. Und es ist für uns alle schöner, das einfach als solches im Ganzen zu sehen. Und im Einzelnen die gesunden Anteile zu stärken und die vermeintlichen Defizite als nicht ganz gelungene Bewältigungsmechanismen zu würdigen und ihnen beim Wachsen zu helfen.