Should I stay or should I go? Oder: Dachs und Igel allein unter Menschen…

Heute wurde ich Rezipientin einer sehr befremdlichen Geschichte.  So wurde mir geschildert, wie ein Dachs einen Igel zerlegt hatte – wissend, wo die Schwachstelle ist und ihn dann dort … aufmachend, langsam verzehrend unter seinen lauten Todesschreien, während ein zweiter Igel bei ihm blieb, ihn nicht im Stich lies.

Die Person, die das geschildert hatte, war in die Szenerie geraten, weil sie die Schreie gehört hatte. Sie hatte dann den Dachs zunächst vertrieben,  jedoch nicht weiter eingegriffen und die Igel sich selbst und später dem Dachs überlassen, als dieser zurück kam und die Schmerzensschreie weiter durch die Nacht gellten. Am nächsten Morgen waren wohl beide Igel verschwunden und die Person, die mir diese Geschichte erzählte, war traurig bis ratlos, in der Situation jedoch einfach überfordert. Eigentlich sehr warmherzig, war sie in diesem Moment an einem Punkt, an dem sie nicht mehr konnte, auch mal schlafen wollte, sich unsicher war, ob das denn nicht so “sein muss” in “der Natur” und Eingreifen für beide Seiten nicht eher von Nachteil wäre (weil der Dachs dann Hunger leiden würde und der Igel eh elendig einginge).

Das Resultat ist nun bekannt und der emotionale Nachlass für sie und auch für mich als schlichte Zuhörerin irgendwie bedrückend.

Es verbleiben Fragen wie: Muss das wirklich so? Bleibt es bei so grausamen Beobachtungen und Fakten wie: Ja, Dachse fressen auch Igel (und nicht nur Aas und anderes, Nichtlebendiges). Ja, der Igel leidet und schreit lange, denn es ist ein langsamer Prozess.

Bleibt es bei der Erkenntnis, dass Natur immer wieder auch knallhart und grausam ist?

Nach kreuzweisen Betrachtungen und Dialogen mit  “verbrieften Naturverständigen” (Biologen) verbleibt in mir der Gedanke, dass es stimmt: In der Natur geschehen immer wieder auch knallharte Szenen. Der Verzehr der eigenen Nachkommen ist ein Beispiel dafür, die Beobachtung des Dachses ein weiteres. Das Alles lässt spontan ein Gefühl der Entzauberung entstehen – es ist eben nicht malerisch-romantisch, friedlich und ruhig. Es ist immer wieder auch stahlhart.  Andere Erkenntnisse – wie die von den Bäumen (Rotbuchen), die sterbende Nachbarn über Jahrzehnte über die Wurzeln mit Nährstoffen versorgen, damit sie nicht jämmerlich eingehen (Wohlleben, 2015) – verzaubern Bereiche, in denen Natur vielleicht nüchtern und isoliert betrachtet wurde. So wird Detail für Detail der Blick des Betrachtenden korrigiert – Bereiche entzaubert, andere wieder verzaubert auf eine Art.

Letztlich ist Natur jedoch kein Schaubild und erhaben über menschlich kleine Gefühlsaufladungen. Sie ist weder gut noch schlecht, grausam noch romantisch. Sie ist einfach. Und sie ist viel zu divers, unergründlich, unfassbar mannigfaltig in alle Richtungen, als dass mensch sich ein Urteil darüber erlauben könnte. Die Zuschreibungen von menschlichen Bewertungskategorien sind ebenso zutiefst menschlich wie absurd und nicht treffend in diesem Zusammenhang. Diese unsere Spezies hat viel auseinandergetrieben, seziert, isoliert, steril beobachtet, atomisiert und wird es doch nie ganz begreifen – die Natur. Und das, weil das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile. Und auch, weil wir als Teil von ihr arrogant wären zu glauben, wir könnten das große Ganze WIRKLICH erfassen. Wie menschlich überheblich und beschmunzelnswert… könnte sie uns anschmunzeln, die Natur.

So ist es denn für mich als wertfrei zu betrachten, was zwischen Dachs und Igel geschah. Habe ich weder die Einsicht, welcher Hunger den Dachs plagte, noch ob er oder sie Junge versorgen musste, noch ob er oder sie selbst irritiert davon war, wie es war. Auch muss mensch betrachten, dass die Reflexion, die Perspektivenübernahme nicht pauschal anderen Spezies gegeben ist. So ist dem Dachs mutmaßlich der Schmerz des Igels nicht  bewusst.

Wem der Schmerz des Gegenübers jedoch bewusst ist, ist der Mensch. Der Mensch kann abstrahieren, Perspektive übernehmen, geplant willentlich Schaden bis Folter zufügen – und aber auch geplant und willentlich zugunsten des Gegenübers Handeln, verzichten, Milde und Fürsorge geben, Mitgefühl für gänzlich entfernte Spezies empfinden und in Taten umsetzen. Und wenn auch nicht klar ist, ob und in welchem Maße andere Spezies diese Wärme können, so wissen wir es doch sehr sicher über den Menschen, dass er die Fähigkeit der Perspektivenübernahme im Grunde beherrscht. Wir wissen es, weil wir selbst Menschen sind.

Das ist eine Fähigkeit, die menschliches Verhalten als konsequenzBEWUSSTES zeichnet und damit seine Handlungen bewertbar macht. In Bewertungskategorien wie “grausam”, “mitfühlend”, “liebevoll”…

So ist es einzuordnen, was Menschen mit anderen Lebewesen machen oder lassen. Und so ist es auch einzuordnen, wenn Menschen Hilfe verwehren oder unterlassen.

Ist es aber “unterlassene Hilfe”, den eingangs beschriebenen Igel in seiner Not liegen zu lassen und den Dachs später weiter sein Treiben nachgehen zu lassen?

Zugegeben, es gibt Fälle, bei denen ist die Einordnung leichter, offensichtlicher. In diesem Fall ist die Unklarheit bezüglich des Hungers des Dachses und des “Laufs der Dinge” in der Natur sicherlich ein starkes Argument für das Nichteingreifen. Auch kann ich die Überforderung der Person und das Zögern, in “natürliche Vorgänge” einzugreifen absolut verstehen.

Allein, ich hätte anders gehandelt- handeln müssen. Meine innere Gefühlswelt und Perspektivenübernahme, meine allgemeine Ansicht hätten ein Weggehen nicht zugelassen.  Die Natur ist, meiner Ansicht nach, eben kein Schaubild, an das man nicht rühren darf und das man wie ein Kinofilmbetrachtender von außen sieht. Sie ist auch nicht für unseren dilettantischen Pfusch zu Diensten, der hier alle paar Meter geschieht – zweifellos. Aber sie ist eben auch kein Kinofilm, den ich ohne Interaktion betrachte. Sie ist mannigfaltige Interaktion von ungezählten Lebewesen, ungezähltem Lebendigen. Lebendig, so wie wir. In dem Moment, in dem ich in die Szene stolpere, in der der Dachs den Igel ausweidet, sind sie darin nicht mehr zu dritt wie eingangs beschrieben ( den zweiten Igel, der den ersten nicht verließ, mitgezählt), sondern zu viert. Ich bin ebenso Individuum wie alle anderen dort und stoße mit meiner Sicht der Dinge, meiner inneren Welt und meinen Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme (zur Draufsicht?) dazu. Ich sehe nicht nur, dass der Dachs Hunger empfindet, sondern auch, wie stark der ausgeweidete Igel leidet. Ist es dann einmal soweit, dass der Dachs kurz das Weite sucht, so bin ich in der Lage, es für alle erträglicher zu machen – egal, in welche Richtung. Der Dachs verzehrt ganz unterschiedliche Kost und wäre auch mit anderem zu begnügen, wäre es noch möglich, dem Igel zu helfen. Wäre das nicht mehr der Fall, so ist ein kurzes Ende für den Igel wohl barmherziger, als weiteres, stundenlanges Leiden durch das Verzehrtwerden bei lebendigem Leib. Und der Dachs würde auch einen toten Igel noch essen, denn er ist kein Aasverächter.

An dieser Stelle müsste ich mich also, aufgrund dessen, was ich in die Situation mitbringe an Sehen und Wissen, Fühlen und Mitfühlen, für ein Beenden des Leids – nicht zu Lasten des Dachses entscheiden. Alles andere wäre wider mein gesamtes Inneres.

Dies sei jedoch keine “Ver- oder Beurteilung” des Verhaltens der oben geschilderten Person. Es ist mir verständlich, dass sie überfordert war und auch ein einmal zurückgezogener Dachs eine “Igelhilfsaktion” zur Beendigung seines Leids (in welcher Form auch immer) nicht immer hervorrufen kann in solch einer Situation der Überforderung und der Fragen, ob das denn jetzt so sein müsse, eben “Natur sei”, auch wenn der Dachs später weitermacht und das Schreien und Sterben weitergeht.

Es ist vielmehr eine  Betrachtung der Situation in Ruhe und ohne Handlungsdruck. Eine Erkenntnis, dass es keinen Grund gibt, nicht einzugreifen für mich selbst. Dass es auch rational begründbar ist, was innerlich sowieso mein “Diktat” gewesen wäre: Nicht anders zu können, als zu helfen.

Und es ist ein Aufruf, keine Skrupel vor Mitgefühl und Hilfe zu haben, solltet ihr Lesenden einmal Teil einer solchen Situation werden. Leiden zu erkennen und es zu beenden (egal in welche Richtung – auch mit einem schnellen Ende, wenn ihr es denn könnt und es unausweichlich käme), ist auch Größe und etwas, das nur der erkennende Part in einer solchen Situation verüben kann (und der sind nun mal wir Menschen). Dem vermeintlichen Aggressor dabei nicht seine Bedürfnisse abzusprechen und sie leidärmer zu ermöglichen (Ersatznahrung, toter Igel), ohne ihn zu bewerten oder gar abzuwerten, ebenso. Alles in Allem für alle beteiligten Individuen kein Verlust, aber ein besserer Ausgang. Alles in Allem ein Erkennen und Handeln im Guten. Weil auch wir Teil der Interaktionen der Natur sind und immer sein werden – und wir gerade in einem solchen Fall keine verklärte Ansicht von Natur als Schaubild, in das nicht einzugreifen ist, haben sollten. Nicht, wenn wir unmittelbar in die Situation geraten und es auch unser Inneres unmittelbar betrifft. Wir und unsere Interaktionen in und mit der Natur haben eh Auswirkungen – jede Sekunde, Minute, Stunde, jeden Tag. Meist negative für so viel Lebendes.

Warum nicht einmal auf positive Art wirken – so weit als möglich für alle Beteiligten?

Warum nicht einmal auch im Guten? Das zu sehen und zu versuchen, dafür mögen diese Gedanken Anregung sein.

 

el.Frida.e